Bau der Trinkhalle und des Dorfbades in Bad Ragaz
Nach der Auflösung des Klosters Pfäfers im Jahr 1838 gingen die Güter des Klosters an den Kanton St. Gallen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte der Staat der Therme von Pfäfers. Er liess einen Stollen bis zur Quelle vortreiben und fasste das Thermalwasser neu. Durch das Fassen aller Wasseradern konnte die Ergiebigkeit des warmen Wassers mehr als verdoppelt werden.
In die von Kantonsingenieur Adolf Näf erbaute Fahrstrasse nach dem Bad Pfäfers wurde eine Teuchelleitung aus Lärchenholz verlegt. Am 31. Mai 1840 floss das Thermalwasser mit einem minimalen Temperaturverlust von zwei Grad Celsius nach dem Hof Ragaz. Damit begann für das Bauerndorf der Aufstieg zum Kurort Bad Ragaz. Bald genügten die Einrichtungen zur Aufnahme der Badegäste und Touristen nicht mehr. Auf dem linken Ufer der Tamina entstanden im Dorf Ragaz Gasthöfe und Pensionen, die dem Ort immer mehr einen halbstädtischen Charakter gaben.
Um dem neuen Badeort eine gute Entwicklung zu ermöglichen, überliess die Regierung des Staates St. Gallen dem Architekten Bernhard Simon von Glarus die Thermalquelle und das Bad Pfäfers in einem Konzessionsvertrag auf 100 Jahre zur freien Benützung. Die Domäne "Hof Ragatz" verkaufte sie dem energischen Unternehmer Simon für die Summe von 1'650'000 Franken. Daran war zusätzlich die Bedingung geknüpft, dass er einen grossen Gasthof samt Parkanlagen, eine Trinkhalle, eine Badeanstalt und einen Kursaal errichtet.
Wie es zum Bau des Dorfbades kam
Das Dorf Ragaz blieb mit seinen Gästen auf die Benützung des Bades Pfäfers und der Anstalten im Hof angewiesen. Mehrjährige Verhandlungen der Ortsbehörden mit der Kantonsregierung haben dazu geführt, dass das Dorf das Recht erhielt, eine eigene Badeanstalt mit Trinkhalle zu errichten. Voraussetzung war, dass die Gemeinde einen Bauplatz, die Steine und das Bauholz für das Gebäude gratis zur Verfügung stellte. Dem Dorf wurde eine Thermalwassermenge von 300 Mass pro Minute (ein Mass =1,5 Liter) zugeschieden, wobei diese Menge in wasserarmen Jahren reduziert werden konnte. Die Priorität hatten das Bad Pfäfers und der Hof Ragaz
Verschiedene Häuser mussten zum Abbruch angekauft werden. Nur so gelangte die Politische Gemeinde mitten im Dorf an der neuen Bahnhofstrasse zu einem Bauplatz. Architekt Johann Christoph Kunkler ( 1813 bis 1898) entwarf einen Plan zur Errichtung des Dorfbades. Der Stil entsprach dem Münchner Klassizismus. Um die Anforderungen des Bauprogramms erfüllen zu können, wählte er für das Gebäude eine trapezförmige Grundfläche. Wegen der Begrenztheit des Grundstückes musste der Hofraum reduziert werden.
Der Bau umfasste eine Trinkhalle von 93 Fuss Länge und 21,5 Fuss Tiefe. Die insgesamt 17 Bäder waren in zwei Abteilungen für Männer und Frauen aufgeteilt. Jede Seite war mit einem Wartesalon und einem Ruhezimmer versehen. Nebst dem Haupteingang von der Trinkhalle her bestand ein Nebeneingang zum direkt angrenzenden Hotel Tamina. Die Einweihung erfolgte im Jahr 1868.
Einzelheiten aus dem Baubeschrieb
Im Beschrieb von Architekt Kunkler steht wörtlich: "Das sonst einstöckige Gebäude enthält über den Zimmern des Billeteurs und Badewärters noch eine kleine Wohnung für den letzteren und seine Frau, welche die Bäder der weiblichen Abteilung zu besorgen hat. Über der Waschküche und dem Bügelzimmer befindet sich ein Raum mit dem Apparat zum schnellen Trocknen der Badewäsche, da seit der Eröffnung der Anstalt im Frühjahr 1868 das Bedürfnis nach Bädern gestiegen ist, wurden die für die Wäscherin bestimmten Lokale zu Baderäumen mit grösseren Bassins eingerichtet."
In der Trinkhalle sprudelte das Thermalwasser aus zwei an der Rückwand stehenden Brunnen. Bei schlechtem Wetter bewegten sich die Kurgäste im geschlossenen Korridor, wo ebenfalls zwei Brunnen angelegt waren. Die Qualität des Thermalwassers wird im Detail beschrieben: Es ist rein, kristallhell, ohne Geruch und Geschmack. Es lässt sich so gut trinken wie kaltes Quellwasser. Es gehört in die Reihe jener Warmquellen, die wegen der verschwindend kleinen Menge an Mineralien als stoffarme oder indifferente Thermen genannt werden. Die Bäder von Ragaz haben die Annehmlichkeit einer konstanten Temperatur, die durch den beständigen Zu- und Abfluss des Wassers erhalten bleibt. Da die mit Zement gemauerten Bassins mit weiss glasierten Fliessen ausgelegt sind, ist das Baden im reinen, klaren Wasser sehr einladend und behaglich.
Auch bautechnische Beschreibungen fehlen nicht: Der Fussboden der Baderäume ist asphaltiert, ein Teil der Bäder besitzt Douchen. Der sich dauernd entwickelnde Wasserdampf wird mit Röhren aus Zinkblech über das Dach abgeleitet. Wärme und Feuchtigkeit fördern das Rosten von Eisen und das Faulen von Holzteilen. Die Anwendung dieser Materialien ist deshalb möglichst vermieden worden. Wo bei Türen und Fenstern trotzdem Holz verwendet wurde, hat sich das harzreiche Lärchenholz aus Graubünden als das dauerhafteste Material bewährt.
Das Bad mit der grössten Wanne wird von den Bewohnern der Region zum Schröpfen lassen benutzt. In der Regel geschieht dies bei mehreren Besuchern gleichzeitig.
Aufschlussreich ist die Beschreibung von Baugrund und Baumaterialien
Der Baugrund des Gebäudes besteht aus einer Ablagerung von Flussgeröllen, von der Nussgrösse bis zu Blöcken von über 30 Kubikfuss variieren. Das ganze Dorf mit seinen Häusern und Weingärten steht auf einem Schuttkegel, den die Tamina bei ihren Ausbrüchen im Laufe der Zeit gebildet hat. Beim Abbruch der Häuser und dem Ausheben der Fundamentgrube für das neue Gebäude hat sich gezeigt, dass unter den Souterrains noch ein oder gar zwei Hauskeller vorhanden waren. Daraus muss gefolgert werden, dass man nach einer Überschwemmung den Keller aufgegeben hat und die Erdgeschosse der Häuser als Keller benutzt wurden. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass 1750 das Jahr der "Kleinen "Güssi" war, 1762 folgte die "Grosse Güssi".
Als Baumaterial wurde für den Gebäudesockel Numuliten-Kalkstein verwendet. Dieser konnte bei der Porta Romana ausserhalb von Ragaz gebrochen werden. Mit diesem Stein wurde auch das gesamte Bruchstein-Mauerwerk ausgeführt. Die korinthischen Säulen, Bogen, Gesimse, Tür- und Fenstereinfassungen sind aus Sandstein von St. Margrethen gearbeitet. Für die Treppenstufen hat der Architekt den harten Verrucano von Mels gewählt. Der Boden der Trinkhalle und der innere Gang wurden mit farbigen Zementplatten nach vorgezeichneten Mustern belegt. Zum Eindecken des Daches ist dunkler Schiefer aus dem Steinbruch Vadura verwendet worden.
Die Gesamtkosten inkl. Mobiliar betrugen 141'383 Franken. Darin sind die Materialleistungen der Gemeinde Ragaz im Betrag von 30'000 Franken inbegriffen. Das Dorfbad ist bis heute immer noch Eigentum des Kantons St. Gallen.
Quellen
Skizze: Allgemeine Bauzeitung, Wien 1872
Ragazetta spezial 1 / Oktober 2002
Grundriss der Trink- und Badenastalt im Dorfbad: